Das Vorabitur

Das Vorabitur bereitet die Angehenden Abiturienten auf die eigentliche Abiturprüfung vor. Es handelt sich dabei um eine normal gewertete Klausur, die fünfstündig unter Abiturbedingungen geschrieben wird. Was man sich unter Abiturbedingungen vorzustellen hat, sei dem Betrachter vorbehalten, folgende Schilderung soll aber Hilfestellung dabei geben.

"Bringt ruhig etwas zu Essen und zu Trinken mit" hatte man uns großzügig empfohlen. Wahrscheinlich hatte niemand damit gerechnet, daß diese unscheinbaren Worte der deutschen Wirtschaft eine beachtliche Menge an Finanzmitteln zuführen würden. Was vor wenigen Minuten noch ein ganz normaler, der Natur nach karger Bioraum war, hat sich binnen kürzester Zeit in einen riesigen Lagerverkauf der "Albrecht Discount" entwickelt. Hinter Bergen von Schokolade, Brötchen, Traubenzucker, Rosinen, bunten Getränkechemikalien, Wasserflaschen und allem, was der Konsument sonst noch mit zwei Händen tragen konnte, verschanzen sich neunzehn Deutsch – LK – Schüler, vielleicht in der Hoffnung, ungestörte Blicke auf die Nachbarklausur zu werfen und sich auf diese Weise produktiv auszutauschen?. Aber diese Überlegung erübrigt sich, sieht man sich den Verlauf der folgenden fünf Stunden an.

Es besteht eigentlich nicht der Bedarf an Tarnung, da man offen und ehrlich seine Mitschüler um Rat bittet – quer durch den Raum. Doch auf schnöde Fragen des Textverständnisses beschränken sich die Prüflinge durchaus nicht. "Hat mal jemand einen Hustenbonbon?" , "Wer hatte denn noch diese leckeren Lakritzschnecken gekauft?". Bonbons sausen über die Köpfe der Schüler um auf besonders künstlerische Weise ihren Besitzer zu wechseln. Daß nebenbei auch der eine oder andere versucht, halbwegs sinnvolle Sätze auf das Papier zu zaubern, um später einmal einen Studienplatz ergattern zu können, oder die Chance auf eine Stellung in der freien Wirtschaft zu haben, konnte doch niemand ahnen. Man muß ja nicht immer alles so ernst nehmen – vor allem das Abitur nicht - , und das teilt man den sich beschwerenden "Strebern" auch gerne und freundlich mit.

Statt der erwarteten, gedrückten Prüfungsstimmung, herrscht eine erfrischend fröhliche Karnevalsstimmung. Das Bild erinnert stark an Szenen aus frühester Kindheit. Verschwommene Bilder von überfüllten Kindergartenräumen tauchen plötzlich wieder auf. Stimmengewirr, bunte Süßigkeiten und hin und wieder eine euphorische Freudenbekundung. Zwangsläufig drängt sich einem die Frage auf, warum niemand auf die Idee gekommen ist, eine Wolldecke mit zum Vorabitur zu nehmen, um sich daraus und aus zwei Stühlen eine Höhle zu bauen. Man hätte dann eine Taschenlampe mitnehmen, alle Lebensmittel in der Höhle verstauen und viel Spaß haben können.

Die Zeit verfliegt derweil mit der Relativitätstheorie widersprechender Geschwindigkeit, ein Eindruck, der sich noch durch die Tatsache verstärkt, daß man noch gar nicht so recht etwas schreiben konnte – das liegt doch nicht etwa an der Unruhe? Eigenartig ist nur, daß beim Einsetzen einer vorläufigen Lärmbelästigung durch einen Blätterstaubsauger plötzlich vor allem jene vor Empörung laut aufschreien, die zuvor so viel Freude aus der Erschaffung unübertönbaren Lärmes schöpfen konnten.

Die beste – und in diesem Falle letzte – Chance auf Ruhe liegt bekanntlich beim Lehrer. In unserem Falle scheint dieser aber noch den richtigen Zeitpunkt zum Eingreifen abzuwarten. Gespannt warten jene schon erwähnten Schüler mit Zukunftsplänen auf eben diesen Moment, doch er kommt nicht. Am ruhigsten ist es, wenn gerade der halbe Kurs "auf Toilette" oder "rauchen" ist, "wir können uns nicht absprechen, wir haben ja verschiedene Themen" – das leuchtet ein, aber bei drei Themen und fünf oder sechs Abwesenden stimmt die Rechnung nicht mehr ganz (aber schließlich handelt sich hier nicht um einen Mathe- sondern um einen Deutsch – LK).

Als die Ablöseaufsicht einem dritten Schüler das Verlassen des Raumes versagt, steigt die Stimmung kurz in Richtung Revolution gegen diese unsägliche Ungerechtigkeit und offenkundige Unterdrückung der Menschenrechte. Aber bevor es zu Attentaten kommt, kehrt der liberale Pauker auf seinen Thron zurück – anscheinend ohne sein Zepter, was für uns weiterhin kein Eingreifen bedeutet.

Irgendwie schafft man es dann doch, eine zufriedenstellende Arbeit abzuliefern, und sich schnell auf den Heimweg zu machen – nach so einer "angespannten" Arbeitsatmosphäre sehnt man sich nach der Ruhe einer Autobahn.

Besagter Lehrer wartet wohl immer noch auf den passenden Moment um einzugreifen, was man ihm ja hoch anrechnen muß. Die Vorbereitung auf das Abitur war jedenfalls höchstinteressant, und wenn sich das Abitur auch nur ansatzweise ähnlich gestalten sollte, werde ich versuchen mein Deutsch – Abitur mit den Naturwissenschaftlern in einem Raum zu schreiben – die wissen vielleicht, wie man sich konzentriert. Oder ich lege einfach alle meine Zukunftspläne ab, was ja anscheinend auch die breite Masse des Deutschkurses schon vor Langem getan hat, und habe einfach Spaß am Abi – mit Konfetti und Bonbons.

Abi alaaf!